Mittwoch, 4. Juni 2014

Im Angesicht des Todes


 Domenica del Corriere 9.Sept.1962, Titelillustration von Walter Molino (Sammlung Nagel)

Der Tod scheint allgegenwärtig im Artistenmilieu: "Todesmutige" Dompteure stecken den Kopf in den Rachen der Bestie, Hochseilläufer spielen in schwindelnder Höhe mit ihrem Leben, Artisten präsentieren den legendären "Salto Mortale", ... - die Liste "lebensgefährlicher" Darbietungen ist unüberschaubar.
1924, Sammlung Nagel
"Der Artist bittet nach der Darbietung um ein Extra-Salär. Dieses Geld dient allein der Absicherung im Unglücksfall. Aufgrund der Gefährlichkeit der Darbietung ist keine Versicherung bereit, ihn aufzunehmen."

"Todeswand", "Todeskugel" oder "Todesrad" - die (Über-)Betonung ihrer Gefährlichkeit soll die artistische Attraktion aufwerten und nicht zuletzt sensationsheischendes Publikum anziehen. Es scheint allerdings fraglich, ob dieses Publikum, wie oft kolportiert, auf das Misslingen, den fatalen Fehler tatsächlich aus ist: Der frenetische Applaus nach einer spannungsgeladenen gefährlichen Darbietung ist nicht zuletzt auch ein Ausdruck der Erleichterung darüber, dass, wie zu erwarten, alles gut gegangen ist.
Nervenkitzel, Mut und Risikobereitschaft der Akteure wirken an sich. Vor allem aber übt die "Todesverachtung", das (vermeintliche) "Spiel mit dem Tod", eine eigentümliche Faszination aus, die zahlreiche interessante psychologische Deutungen nahelegt ...

Unfälle in Menagerien wurden in den illustrierten Zeitschriften des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts immer wieder aufgegriffen und durch in der Regel recht reißerische Grafiken illustriert. Dieser Holzstich unterscheidet sich dabei von den zahlreichen anderen Illustrationen, die Angst, Schrecken und Panik wiedergeben: Die junge Dompteuse ist gestürzt und somit ihrer "Alpha-Stellung" beraubt. Ein Löwe hindert sie mit seiner Pranke daran, sich wieder zu erheben, die anderen Raubtiere reagieren hoch nervös auf die ungewohnte Situation, die in wenigen Augenblicken zu eskalieren scheint. Die Tierbändigerin indes zeigt keinerlei Anzeichen von Todesangst oder Panik. Entweder hat sie sich ihrem Schicksal ergeben oder aber die kaltblütige Schöne will die Bestien nicht durch Anzeichen von Angst zum finalen Angriff reizen. "Todesmutige" Raubtierbändigerinnen verkörperten einen selbstbewussten Frauentypus, der im schärfsten Gegensatz zum Rollenverständnis ihrer Zeit stand. (Sammlung Nagel)


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